Museum | Kunstmuseum Bern
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Alles zerfällt |
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English / Deutsch Things Fall Apart. Swiss Art from Böcklin to Vallotton13.12.2019 – 20.09.2020 The Kunstmuseum Bern is showing around 200 works from its collection from the perspective of Sigmund Freud’s text in which he speaks of three major humiliations of human narcissism. Alongside masterpieces by Arnold Böcklin, Ferdinand Hodler, Albert Anker, Adolf Wölfli and Félix Vallotton, the extensive exhibition of pieces from the collection also includes works by women artists who have so far received less attention, such as Annie Stebler-Hopf and Clara von Rappard. «Things Fall Apart» is the first exhibition curated by Marta Dziewanska at Kunstmuseum Bern.
The starting point for the exhibition is Sigmund Freud’s 1917 essay about the three humiliations of human narcissism. According to Freud, three scientific discoveries have fundamentally shaken humanity’s understanding of itself: Copernican cosmology, Charles Darwin’s theory of evolution and Freud’s own theory of the unconscious. What Freud describes in his essay as a narcissistic humiliation is the discovery that man is not the center of the universe and rules neither over nature nor even over himself.
The exhibition takes as its theme the mood of uncertainty, the disenchantment of the world, but also flight from the world and longing for the marvelous. In the works of this time, mirrors, hermaphrodites and inner rooms appear with increasing frequency, objects and symbols of the unsettled ego. Human beings are shown as indefinable, alienated and fleeting, the clear idea of the self is breaking down. Idyllic landscape paintings make way for a menacing and monumental picture of nature. The tension between the animate and the inanimate is particularly apparent in Ferdinand Hodler’s «Aufstieg und Absturz» (1894). The lack of distance, the monumentality, the impossibility of giving a context to the scene, as well as the threatening power of nature are combined here with a feeling of tragedy and triumph. Man becomes the insignificant factor in view of overwhelming nature. Works such as Gabriel Loppé’s depiction of «Das Matterhorn» (1867) show a barren alpine landscape with sharp-edged icy peaks around in which the two hikers seem to disappear. Paintings such as Arnold Böcklin’s famous «Meeresstille» (1887) create a fabulous alternative to the actual reality of the late 19th century, thus addressing issues of dream and reality. Human figures are not only merely copied and depicted, but direct their gaze inwards. Albert Anker paints unprettified and psychologically acute portraits of old people or a drinker, and in his famous self-portrait «Der Zornige» (1881) Ferdinand Hodler shows a moment of inner agitation. However, the insecure ego does not just struggle with the awareness of not being completely master of its own inner life. The outside world also becomes increasingly unstable. The fragmentary and often sketchy art works reflect the impossibility of conveying an objective and comprehensive depiction of the (outside) world.
«It is a concern of ours to keep on re-examining our highly diverse collection. Precisely through unfamiliar perspectives we are able to achieve a fresh view of well-known masterpieces, and at the same time we can also give room to previously lesser-known artists.»
The show at the Kunstmuseum Bern shows Swiss art of the 19th and early 20th century, including major works by Ferdinand Hodler, Arnold Böcklin, Paul Klee, Félix Vallotton, Cuno Amiet and Alexandre Calame. Alongside highlights by the well-known Swiss painter the exhibition also includes works by often overlooked women artists such as Annie Stebler-Hopf or Clara von Rappard. The exhibition is arranged as a thematic tour, which, in around ten stages, sheds light on human insecurity in the face of scientific discoveries. The works show, in exemplary form, artists’ engagements with the experience of the alien within themselves, they show identity crises and vertigo, the experience of overwhelming nature, and present us with creatures that are half human, half animal. «The idea behind this exhibition is to look at the historical collection and to ask it contemporary questions. Its aim is to broaden the spectrum of possible interpretations of the canon: open it up, propose alternative readings and cast a new light on history and tradition. I am very interested in the ways of how art of the past can become mirror for the art, but also for the more general questions and challenges of the present.»
With the support of Kanton Bern, Credit Suisse, PIERRE KOTTELAT
Alles Zerfällt. Schweizer Kunst von Böcklin bis Vallotton13.12.2019 – 20.09.2020 Ausgangspunkt der Ausstellung ist Sigmund Freuds Schrift von 1917 zu den drei narzisstischen Kränkungen der Menschheit. Freud zufolge haben drei wissenschaftliche Entdeckungen das Selbstverständnis des Menschen grundlegend erschüttert: Das Kopernikanische Weltbild, Charles Darwins Evolutionstheorie und Freuds eigene Lehre des Unbewussten. Was Freud in seinem Aufsatz als narzisstische Kränkungen bezeichnet, ist die Einsicht, dass der Mensch weder Mittelpunkt des Universums noch Herrscher über die Natur und sein eigenes Bewusstsein ist. Die Ausstellung thematisiert die Stimmung der Unsicherheit, die Entzauberung der Welt, aber auch die Weltflucht und Sehnsucht nach Sagenhaftem. In den Werken dieser Zeit tauchen vermehrt Spiegel, Zwitterwesen und Innenräume auf, Objekte und Symbole des verunsicherten Ichs. Menschen werden undefinierbar, entfremdet und flüchtig wiedergeben, die klare Vorstellung vom Ich zerfällt immer mehr. Idyllische Landschaftsmalereien weichen einem bedrohlichen und monumentalen Naturbild. Die Spannung zwischen dem Belebten und dem Unbelebten zeigt sich besonders in Ferdinand Hodlers «Aufstieg und Absturz» (1894). Die fehlende Distanz, die Monumentalität, die Unmöglichkeit, der Szene einen Rahmen zu geben, sowie die bedrohliche Kraft der Natur sind hier vermengt mit einem Gefühl von Tragödie und Triumph. Der Mensch wird zum unbedeutenden Faktor angesichts der übermächtigen Natur. Werke wie Gabriel Loppés Darstellung «Das Matterhorn» (1867) zeigen eine karge Alpenlandschaft mit scharfkantigen Eisspitzen, in deren Umgebung die zwei Wanderer zu verschwinden scheinen. Gemälde wie Arnold Böcklins berühmte «Meeresstille» (1887) schaffen eine fabelhafte Gegenwelt zur eigenen Realität der Gründerzeit und thematisieren so Traum und Wirklichkeit. Personen werden nicht mehr nur nachgezeichnet und abgebildet, sondern richten ihren Blick nach innen. Albert Anker hält unverklärt und mit psychologischer Schärfe Bildnisse von alten Menschen oder einem Trinker fest und Ferdinand Hodler zeigt in seinem berühmten Selbstbildnis «Der Zornige» den Moment einer inneren Regung. Das verunsicherte Ich kämpft jedoch nicht nur mit dem Bewusstsein, nicht vollkommen Herr über das eigene Innenleben zu sein. Auch die Aussenwelt gerät zusehends ins Wanken. Die bruchstück- und oft skizzenhaften Kunstwerke spiegeln dabei die Unmöglichkeit wider, eine objektive und umfassende Darstellung der (Aussen-) Welt zu vermitteln. «Uns ist es ein Anliegen, unsere vielfältige Sammlung immer wieder von Neuem zu befragen. Gerade ungewohnte Perspektiven ermöglichen einen frischen Blick auf bekannte Meisterwerke, und gleichzeitig geben wir so auch bisher weniger beachteten Künstlerinnen und Künstlern Raum.» Die Schau im Kunstmuseum Bern zeigt Schweizer Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, darunter bedeutende Werke von Ferdinand Hodler, Arnold Böcklin, Paul Klee, Félix Vallotton, Cuno Amiet und Alexandre Calame. Neben den Highlights der bekannten Schweizer Maler sind auch Werke von bisher weniger beachteten Künstlerinnen wie Annie Stebler-Hopf oder Clara von Rappard zu sehen. Die Ausstellung ist als thematischer Rundgang angelegt, der in rund zehn Stationen die menschliche Verunsicherung angesichts der wissenschaftlichen Entwicklungen beleuchtet. Die Werke zeigen beispielsweise die Auseinandersetzung der Künstler mit der Erfahrung des Fremden im eigenen Selbst, zeigen Identitätskrisen und Schwindel, die Erfahrung der übermächtigen Natur und präsentieren Wesen, die halb Mensch, halb Tier sind. «Die Idee hinter ‹Alles zerfällt› ist es, die historische Sammlung aus zeitgenössischer Perspektive zu betrachten und ihr aktuelle Fragen zu stellen. Die Ausstellung will das Spektrum der möglichen Interpretationen des bisherigen Kanons erweitern, ihn öffnen, alternative Lesarten vorschlagen und ein neues Licht auf Geschichte und Tradition werfen. Mich interessiert insbesondere, wie historische Kunstwerke zum Spiegel der zeitgenössischen Kunst werden können und wie sie grundsätzlichen Fragen und Herausforderungen der Gegenwart vorwegnehmen.» Kuratoren
1 Das zerschlagene «Ich» Interessanterweise gedeihen gerade in Zeiten, in denen der Gedanke des Fortschritts vorherrscht, auch Vorstellungen von Dekadenz, Abweichung und Verfall. Die Kunst dieser Zeit macht den Versuch, die zerstückelten Darstellungen des Subjekts wieder zusammenzufügen – eines Subjekts, das von Träumen, Begehrlichkeiten, unaussprechlichen Ängsten, Zwängen und allerlei verborgenen, oft widersprüchlichen Gedanken, Stimmungen und Emotionen verfolgt wird. Ob mit geschlossenen Augen abgebildet, von Krankheit gezeichnet oder von Trieben und Instinkten aufgezehrt – die neuen Darstellungen der Menschengestalt tauchen auf, wenn das vernunftbegabte und allmächtige «Ich» verschwunden ist. Diese Arten der Darstellung scheinen von den neu entdeckten Seelenleiden inspiriert. Neurosen und Hysterien treiben das frontal dargestellte, eigenständige und selbstbewusste Subjekt dazu, seine festen Umrisse zu verlassen. Wo es vorher leuchtend, siegessicher und überlegen war, ist es nun verrenkt, zwitterhaft und zutiefst erschüttert.
2 Ein Fremder im Selbst Am auffallendsten zeigt sich diese Entfremdung in der Erfahrung von extremer Wut, im Ausbruch der Tobsucht – einer Flutwelle, die die Gedanken in ihre Gewalt bringt und das gesamte Blickfeld blockiert. Es handelt sich um eine Erfahrung, die sich grundlegend unterscheidet von der einsichtigen Überlegung, dass «diese Gedanken vielleicht gar nicht meine eigenen sind». Im Gegenteil: Die Tobsucht kennt keine Zweifel, sondern nur die eiserne Gewissheit, dass der Denkende nicht ich ist. Die Tobsucht steht in direktem Widerspruch zur Identität des Subjekts. Das Bewusstsein, das vernunftbegabte «Ich», ist nichts weiter als ein Untermieter, der im Raum der Reflektion wohnt.
3 Halb Mensch – halb Tier Darstellungen von allerlei Zwitterwesen sind ein wiederkehrendes Thema in der Kunstgeschichte. Sie sind stets verbunden mit dem Versuch, Botschaften zu vermitteln, die sich der Sprache entziehen und sich jenseits der Vernunft sowie ausserhalb der bestehenden Normen und Standards bewegen. Ein Zwitterwesen verkörpert einen nicht verhandelbaren Widerspruch. Es steht für den Sonderling, den Abtrünnigen. Darstellungen, in denen menschliche und tierische Merkmale verschmelzen, deuten auf die schwer fassbaren, unkontrollierten und bedrohlichen Aspekte der Menschheit hin, die nicht mit den bereits vorhandenen, eindeutigen Kategorien dargestellt werden können. Gewaltbereite, durch ihren Instinkt getriebene Minotauren, von Gefühlen besessene Nymphen und verführerische Sirenen in sinnlichen Szenen bevölkern die Fantasie des 19. Jahrhunderts und sind Ausdruck der Spannung zwischen einer Form, die das Grauen verbirgt und dem Versuch, das Unaussprechliche zu vermitteln. Solche Bilder dienen auch dazu, den ausgefallenen (männlichen) Sehnsüchten und Fantasien von wilder Sexualität ein Ventil zu geben, die im Angesicht der bevorstehenden Krise des Bürgertums gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund rücken.
4 Identitätskrise Der Lobgesang auf das bäuerliche Leben in der Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist das unmittelbare Ergebnis eines Abstiegs und Ausschlusses von der zukünftigen Gesellschaft. In der ländlich geprägten Genremalerei aus jener Zeit herrscht ein Gefühl der Schwebe, Untätigkeit und Träumerei, das zwischen Idylle und Entzauberung schwankt. Anstatt eine Geschichte zu erzählen, frieren die Gemälde aus jener Zeit eine Stimmung, ein Gefühl oder eine Empfindung ein. Die einzelnen Figuren scheinen zurückgezogen, traumwandlerisch und von ihren Gedanken niedergedrückt. Die Gruppenbilder zeigen die Menschen nicht im Austausch miteinander, sondern strahlen eine Leere, eine tranceartige Stille und ein Gefühl der Isolation aus. An die Stelle von Geschäftigkeit, Arbeit und dem Lobpreis der Natur treten Resignation, Müdigkeit und Erschöpfung. Diese Einzelund Gruppenszenen verströmen ein Gefühl der Schwermut. Ihre biblischen und idyllischen Beiklänge lassen die Sehnsucht nach einer verlorenen Identität erkennen, die sowohl individueller als auch kollektiver Natur ist.
5 Übermächtige Natur Anstelle einer intellektuellen Theatralik wollten diese Künstlerinnen und Künstler die Natur so darstellen, «wie sie ist» – veränderlich, lebhaft und im Wandel. Aber die Landschaft war nicht nur ein Feld wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Auch Fragestellungen in Bezug auf Gefühle und Ästhetik rückten in den Fokus. In seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1784) bestand Immanuel Kant auf der Unterscheidung zwischen dem Begriff des Schönen und jenem des Erhabenen. Das Erhabene sei ein «mit Grausen gepaartes Vergnügen». Das Schöne bezaubert, während das Erhabene «die Seele erstaunt». Maler wie Alexandre Calame und François Diday schufen atmosphärische Naturschauspiele, indem sie überhöhte Alpengipfel und abgrundtiefe Schluchten schufen. Die romantischen, malerischen und idyllischen Darstellungen der Natur, früher als objektive Darstellungen der Aussenwelt aufgefasst, wurden ersetzt durch Bilder einer monumentalen, gleichgültigen Naturgewalt, die undurchdringlich, trostlos und bedrohlich wirkt. Die menschliche Gestalt, früher als mutiger Ritter und Eroberer dargestellt, erscheint nun in der Ferne, fast unsichtbar, am Rand, verletzlich, am Fusse von gefährlichen Berggipfeln. Es besteht kein Unterschied zwischen Gruppen von Menschen und solchen von weidenden Tieren; sie alle sind unbedeutend und gleichwertig im Angesicht der übermächtigen Natur. Die Landschaft ist von einem Gefühl der Beklemmung und einer bedrohlichen, eisigen Übermacht erfüllt.
6 Aussenwelt Die Spannung zwischen dem Belebten und dem Unbelebten wird besonders sichtbar in Hodlers Aufstieg und Absturz. Damit schuf dieser zwei wuchtige Gemälde, welche die Erstbesteigung des Matterhorns im Jahr 1864 würdigten. Die fehlende Distanz, die Monumentalität, die Unmöglichkeit, der Szene einen Rahmen zu geben, sowie die bedrohliche Kraft der Natur sind hier vermengt mit einem Gefühl von Tragödie und Triumph. Die menschlichen Gestalten stehen nicht nur am Abgrund, sie sind bereits im freien Fall. Es handelt sich hier um ein sehr charakteristisches Beispiel für das allmähliche Verschwinden des Menschen aus der Landschaftsmalerei im Lauf des 19. Jahrhunderts.
7 Adolf Wölfli, Unglücksfall Die Betrachtung von Adolf Wölflis erfundener Lebensgeschichte zeigt eine Mischung von Ausdehnung und Innenschau, Fantasie und Wirklichkeit, Idylle und Katastrophe. Die Windungen seiner Erzählungen werden mit intensiven Zeichnungen, aber auch Ausschnitten aus Illustrierten ergänzt. Die von ihm gewählten Reproduktionen dokumentieren seine Wiederentdeckung des Privaten anhand von Elementen, die er in der Aussenwelt fand. Indem er zitierte, stellte er eine Verbindung zwischen seinem eigenen und dem öffentlichen Leben als Ganzes her. Die Grenze dazwischen verschwimmt. Wölfli selber verwendet den Begriff «Unglücksfall» mehrfach im Hinblick auf sein eigenes Schicksal. Der Begriff verbindet zwei Ideen, die sein Denken beherrschen: Einerseits ein Fallen in einem konkreten, anekdotischen Sinn, andererseits die Vorstellung eines Unglücks, ob verdient, zufällig oder ungerechtfertigt. Fall enthält aber auch eine Anspielung auf medizinische oder juristische Fälle. Somit kann Wölflis Werk als eine in der Ich-Form geschriebene Studie der Verwirrung in Bezug auf den Geist, die Gesellschaft und die Heilanstalt gelesen werden.
8 Die Landschaft als Gemütszustand In eben diesem Geist wollten die Künstlerinnen und Künstler des beginnenden 19. Jahrhunderts mit ihren Bildern Emotionen wecken. Sie hofften, so Zugang zu den Seelen ihrer Betrachter zu finden, um ihnen Gefühle von Ruhe oder Aufregung, Traurigkeit oder Freude, Wut oder Melancholie zu vermitteln. Die Kunst dieser Zeit diente genau dazu, einen solchen Dialog herzustellen – eine Osmose der menschlichen Empfindungen mit den Schwingungen der Natur. Mit der Zeit wurde die Landschaft zum Medium, durch welches Künstler und Künstlerinnen auch ihre eigenen Ängste, Sorgen und Hoffnungen ausdrückten. Sie spiegelt ihre Gedanken und stellt sie mal als sanft, mitfühlend und hoffnungsvoll, mal als verzweifelt, feindselig, zögerlich oder hilflos dar. Die Landschaft in diesen Bildern ist idyllisch und bietet sowohl den Künstlern als auch den zukünftigen Käufern eine Zuflucht vor der sich rasch industrialisierenden, lauten Welt. Oft wurden diese Bilder von einfachen, unspektakulären Motiven, in denen Licht und Farbe eine Schlüsselrolle spielen, unter freiem Himmel erstellt. Bäume, die vom Wind bewegt werden, dunkle Wälder und seichte Teiche, kombiniert mit der wütenden Kraft der Natur, vermitteln nun die Gemütslage. Oft ist die Aussenwelt nur eine Ausgangslage, die später noch weiter entwickelt, interpretiert und einer tatsächlichen, mehr oder weniger stabilen Einstellung angepasst wird. Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Landschaft zum Ausdrucksträger von Gemütszuständen geworden – und zu einer speziellen Form des Selbstbildnisses.
9 Entdeckungen Einerseits ist die gleichzeitige Eroberung der inneren und der äusseren Welt ein Ausdruck der unersättlichen und vielschichtigen Neugier, der Unternehmungslust und des Tatendrangs des europäischen Subjekts des 19. Jahrhunderts. Andererseits ist sie auch der Schauplatz, an dem das solide Fundament dieses Subjekts zu bröckeln beginnt. Anstatt die menschliche Allmacht und Vorherrschaft zu bestätigen, zeichneten die ständigen Forschungen und Expeditionen ein zunehmend komplexes, zerstückeltes und nicht eindeutig fassbares Bild der Welt. Der Stolz, das Machtgefühl und der Narzissmus des Einzelnen mussten sich nun einer Herausforderung stellen. Die innere und die äussere Welt waren zunehmend nicht mehr dem eigenen Willen unterworfen, sondern wurden im Gegenteil immer schwieriger zu definieren.
10 Künstliche Paradiese Mit seinem Werk Les Rêves et les moyens de les diriger. Observations pratiques legte Hervey de Saint Denis eine erste Studie über Träume vor. Bereits 1867 veröffentlicht, widersprach es dem positivistischen und wissenschaftlichen Ansatz, dass Träume Nebenprodukte von Denkprozessen seien. Die Faszination der Träume, das Interesse am Spiel im Grenzland zwischen Halluzination und Bewusstsein, Vernunft und (absichtlicher) Unvernunft, sowie das um die Jahrhundertwende veröffentlichte und mittlerweile zum Klassiker gewordene Buch Die Traumdeutung von Sigmund Freud (1899) – all diese Experimente im instabilen und schwer fassbaren Gebiet zwischen zwei Welten decken auf, wie heimatlos, innerlich gespalten, undurchdringlich und zutiefst erschüttert das Subjekt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war.
11 Heimgesuchte Häuser Es war Freud, der dieses Gefühl der «verstörenden Fremdheit» – des Unheimlichen – analysierte, das sich an diesen Orten breit machte. Das Haus, das uns Heimat und vertraut ist, ist zugleich auch das, was wir am wenigsten kennen. Die Innenräume werden nicht von äusseren Eindringlingen, sondern von ihren eigenen Bewohnern heimgesucht. Die Gänge, Treppen, Spiegel, die halboffenen Türen oder Fenster, sowie die «Haus»-Tiere, verweisen alle auf etwas, das innerhalb des Rahmens nicht vorhanden, nicht gemalt und nicht ausgedrückt ist. Dem Spiegel kommt in dieser Umgebung eine besondere Rolle zu, da er oft mit einer Offenbarung verknüpft ist. Ist es nicht so, dass wir in den Spiegel blicken, um etwas zu sehen, das sonst nicht sichtbar ist (zum Beispiel unser Gesicht), also etwas, das ausserhalb unseres Blickfelds liegt? Somit bringt der Spiegel etwas ein, das nicht fassbar ist, das uns entgeht und das sich jenseits unseres Raum-Zeit-Horizonts befindet. Das Suggerieren möglicher Abwege auf der Leinwand kann, zusammen mit dem gerade eben entdeckten Un-/Unterbewussten, als Spiegel der Implosion des Subjekts des 19. Jahrhunderts gesehen werden.
12 Schwindel Gemäss Max Nordau, dem Autor der Schrift Entartung (1892), befinden sich die Bewohner der modernen Grossstadt in einem Zustand ständiger Erregung. Ihm zufolge wirkt die Stadt auf den menschlichen Organismus wie ein giftiger Sumpf. Die Bilder der Stadt werden zu fesselnden, manchmal verdrehten Darstellungen des modernen Bürgers. Er erscheint gespalten und doch besessen von einem bestimmten Gedanken, in ständiger, wirrer Bewegung, umgeben von Menschenmassen und doch entfremdet – voller Widersprüche. Die allgegenwärtige Menschenmenge führt die irrationalsten Ängste, Wünsche und Phobien mit sich. Nordau schrieb die vielfältigen, klinischen Zeichen des «Verfalls» in schlüssiger Weise einem grundlegend wichtigen Zustand zu: Der Überanstrengung des zentralen Nervensystems der modernen Bürger. Es ist interessant festzustellen, dass gerade die schnelle Entwicklung der Städte, die grundlegenden Veränderungen in der Gesellschaftsstruktur und die politischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts in ganz direktem Zusammenhang stehen mit den urbanen Menschenmassen, die den weiteren Lauf der Geschichte prägen sollten.
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